Die frühere Top-Athletin Kerstin Poltrock ist in Bielefeld noch als Trainerin aktiv

Die Coronakrise hat verhindert, dass der VfB Fichte Bielefeld die lokale Freiluftsaison wieder am 1. Mai mit dem Jedermannsportfest im Stadion Rußheide eröffnete. Diese von 1968 bis 2019 ununterbrochen durchgeführte Traditionsveranstaltung ist eher breitensportlich orientiert; aber künftige Top-Athleten sind zu Beginn ihrer Laufbahn hier angetreten – unter ihnen Talente, die später deutsche Jugendmeistertitel nach Bielefeld holten: Bernhard Bensch, Alexander Niecke, Ingo Todt und der aktuelle Europameister im Hochsprung, Mateusz Przybylko.

Schon etwas früher als Bensch, ihr Alterskollege vom Bielefelder Erfolgsjahrgang 1964, startete die heutige Trainerin des VfB Fichte Bielefeld, Kerstin Poltrock, beim Jedermannsportfest, dem sie inzwischen auch als Organisatorin eng verbunden ist. Achtjährig warf sie am 1. Mai 1972 den Schlagball auf 30,0 Meter. Es war der Startpunkt einer beeindruckenden Karriere. „Ich besuchte damals die Rußheide-Grundschule, von dort schickte man mich zu diesem Sportfest“, erinnert sich die Lehrerin für Biologie und Sport, die an der Uni Bielefeld studierte und an der Gesamtschule Rosenhöhe unterrichtet.

Für ein halbes Jahr war sie wie ihr Vater Mitglied beim DSC Arminia und danach beim SV Fichte 06/07. Ab 1973 trainierte sie immer unter Heinz Klatt, der beim DLV die A-Lizenz erwarb. 1985 erfolgte ihr Wechsel zum LC Paderborn, der aufstrebenden Leichtathletik-Hochburg in der ostwestfälischen Leichtathletik. 1991 kehrte die gebürtige Bielefelderin sportlich in ihre Heimatstadt zurück, wo sie sich dem LC Balsam Bielefeld anschloss. Sie gewann den Hürdensprint bei der Hochschul-DM und triumphierte bei den Westfalenmeisterschaften in Lüdenscheid mit drei Titeln (100 Meter, 200 Meter, 100 Meter-Hürden). Die damalige 100-Meter-Zeit von 11,82 Sekunden ist einer ihrer bis heute bestehenden, auf drei Klassen verteilten 19 Bielefelder Kreisrekorde – inklusive Halle, Staffeln und Mehrkampfteams.

Ihre wichtigsten nationalen und internationalen Erfolge feierte sie in den späten achtziger Jahren. Bei den OWL-Titelkämpfen 1987 in Lage eroberte sie mit 6,51 Meter die Spitze der deutschen Weitsprung-Jahresbestenliste (am Ende der Saison war’s immerhin Rang zwei). „An den Tag dieses Wettkampfs denke ich besonders gern zurück, da habe ich bei Superwetter wie im Rausch sieben Wettbewerbe bestritten“, erzählt sie. Apropos sieben: Bielefelds weitaus vielseitigste Leichtathletin ist natürlich auch Siebenkampf-Kreisrekordlerin. Doch: „Meine Schwachstellen in drei Disziplinen auszumerzen, wäre zu aufwändig gewesen.“

18 Platzierungen in einem DLV-Finale

Stärken hatte sie reichlich, auch als Werferin: 1991 flog ihr Speer auf 47,50 Meter. Ihren schnellen Beinen und ihrer Sprungkraft verdankte sie Top-Leistungen im Sprint und Weitsprung. Sie brachten ihr insgesamt zwanzig Westfalentitel ein; ungleich wertvoller aber waren ihre 18 Platzierungen in einem DM-Finale, darunter vier Medaillenränge. Junioren-Vizemeisterin wurde sie 1984 (im Fichte-Trikot) über 100-Meter-Hürden und ein Jahr später im Weitsprung.

In der Hauptklasse gewann sie zweimal Weitsprung-Bronze bei einer Hallen-DM, 1987 verpasste sie mit 6,38 Meter den Titel nur um sieben Zentimeter. Im Sommer erreichte sie dann gleich dreimal ein deutsches Finale. Und 1988 absolvierte sie im Frankfurter Waldstadion ein riesiges DM-Programm: Einschließlich der Vorkämpfe war das 200-Meter-Finale ihr zehnter Start innerhalb von drei Tagen. Mit persönlicher Bestzeit von 23,63 Sek. sprintete sie auf Rang sechs. „Vielleicht hätten die 200 Meter meine beste Disziplin werden können, wenn ich mich früher darauf konzentriert hätte“, meint sie.

Hoffnungen auf Olympia-Teilnahme erfüllten sich nicht

1988 durfte sich Kerstin Poltrock Hoffnungen auf die Olympischen Spiele in Seoul machen. „Wegen meiner kaputten Patellasehne kam der Weitsprung nicht in Frage. Aber ich war in der Vorauswahl für die Staffel, hatte die Impfung und das Vermessen für die Einkleidung schon hinter mir“, berichtet sie. Beim Qualifikationswettkampf in Koblenz wurde sie leider benachteiligt, musste in einem anderen 100-Meter-Lauf als ihre Mitbewerberinnen antreten und hier gegen strammen Wind von 3,8 m/sec. Stärke ankämpfen – der olympische Traum war geplatzt.

In Südostasien ist sie aber schon 1987 gestartet. Zu Ehren des thailändischen Königs Bhumibol, der in dem Jahr seinen 60. Geburtstag feierte, fand in Bangkok ein internationales Meeting statt. Poltrock, eine von wenigen eingeladenen Europäerinnen, gewann überlegen die 100-Meter-Hürden vor einer Koreanerin und wurde im 100-Meter-Sprint knapp hinter einer Chinesin Zweite. „Das war ein unvergessliches Erlebnis“, blickt sie zurück.

Ihren sporthistorisch interessantesten Einsatz im Nationaltrikot erlebte sie in Düsseldorf. Hier fand 1988 der einzige je ausgetragene Leichtathletik-Länderkampf zwischen der Bundesrepublik und der DDR statt. Im Weitsprung, den Heike Drechsler mit 7,12 Meter dominierte, punktete Kerstin Poltrock als zweitbeste Westdeutsche auf Rang vier und lag vor der an diesem Tag indisponierten Weltklassespringerin Helga Radtke (DDR, Bestleistung 7,21 Meter).

Zweimal nominierte der DLV die Athletin für Länderkämpfe gegen Großbritannien: 1988 in Birmingham startete sie als Hürdenläuferin und Weitspringerin; unterm Hallendach absolvierte sie 1989 in Glasgow die 60-Meter-Hürden als Dritte und beste Deutsche in 8,33 Sekunden – mit nur einer „Zehntel“ Rückstand auf die Siegerin.

1993 wurde Kerstin Poltrock als Bielefelder Sportlerin des Jahres ausgezeichnet. „Auch das ist mir viel wert“, sagt sie. Ihre Vielseitigkeit beschränkte sich nicht auf die Leichtathletik, als Fußballerin spielte sie für Borussia Herford-Friedenstal in der zweithöchsten Frauenliga. Und mit 34 Jahren, nach Abschluss ihrer LA-Laufbahn, mischte sie noch in der Frühphase des weiblichen Bobsports mit, bestritt als Anschieberin sogar ein Weltcuprennen in Winterberg.